Industrie 4.0 – Zukunftsvision oder profitabler Weg zur Produktionssteigerung?

In der industriellen Lackiertechnik hat die Digitalisierung und Vernetzung von Produkten und Wertschöpfungsketten Fuß gefasst – mehr oder weniger. Das Thema Industrie 4.0 steht in den Führungsebenen im Fokus, denn es geht mit vielfältigen Chancen, großen Herausforderungen sowie hohen Investitionen einher. Anlagenbauer und -betreiber diskutieren den Nutzen und die Investitionskosten kontrovers. Eine exklusive Umfrage unter Anlagenbauern zeigt auf, welche Produkte Anlagenbetreiber implementieren und wie sie durch diese Konzepte profitieren.

Intelligente Lösungen sind aktuell in der BESSER LACKIEREN Expo kompakt zusammengefasst. Grafik: Redaktion
Ergänzung des Hardwareanlagenbestandes um eine Software zur Prozessanalyse. Grafik: Fraunhofer IPA -

Der Begriff Industrie 4.0 ist in aller Munde. Befragt, was die Unternehmensvertreter darunter verstehen und welche Erwartungen sie damit verbinden, sagt Mario Oesterle von der J. Wagner GmbH, „dass Industrie 4.0 dem Kunden durch Konnektivität und Datenverarbeitung mehr Transparenz, Produktivität und Qualität bietet. Die Systeme werden zukünftig dadurch selbstständiger und zuverlässiger arbeiten und somit dem Fachkräftemangel entgegenwirken“.

Fabian Luccarini vom Anlagenbauer e. Luterbach AG bestätigt die Definition bei Wikipedia: Die industrielle Produktion soll mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik verzahnt werden. Technische Grundlage hierfür sind intelligente und digital vernetzte Systeme. Für e. Luterbach ist es eine (Teil-)Antwort auf globale Mega-trends wie: Verknappung der Ressourcen, Personalwende, Kapitalwende und weitere dispositive Faktoren wie Vielfältigkeit, Steigerung der Komplexität. Damit ergeben sich neue Geschäftsfelder und Möglichkeiten. Laut Stefano Bell von der Dürr Systems AG umfasst Industrie 4.0 die Digitalisierung und Vernetzung der industriellen Produktion: Systeme und die Logistik organisieren sich autonom – die Fabriken werden „intelligent“. Für den Anlagen- und Maschinenbau bedeutet das die kontinuierliche Weiterentwicklung von Software und Steuerungstechnik. „Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern ein Vehikel mit dem Ziel, die Verfügbarkeit der Anlagen und die Produktivität zu erhöhen“, sagt Bell. Die erweiterten technischen Möglichkeiten unterstützen die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, den Betrieb optimierter Produktions- und Logistiksysteme und die kundenspezifische individualisierte Produktion in Losgröße 1.

Hohe Anlagenverfügbarkeit

Die befragten Anlagenbauer haben Produkte im Bereich Automatisierung/Industrie 4.0 für industrielle Inhouse- und Lohnbeschichter im Programm. Die Lösungen von e. Luterbach sind laut Fabian Luccarini integral und umfassend. Es geht von Vernetzungen von ERP über MES zur Anlage bis hin zu Predictive Maintenance, KPI Darstellungen, Produktionsplanungsoptimierung etc. Im Wesentlichen bieten diese die Unterstützung, Optimierung und Automatisierung der Prozesse rund um die Beschichtungsanlage. Die Produkte sind modular und auf die Bedürfnisse der Anwender adaptierbar – jeder hat z.B. ein anderes ERP-System. Als Dienstleistungen bietet das Unternehmen proaktiven Support. „Die Produkte von Dürr unterliegen immer dem Ziel, eine hohe Anlagenverfügbarkeit zu ermöglichen“, so Stefano Bell. Darüber hinaus sind sie ressourceneffizient und sorgen für eine hohe Qualität des Kundenprodukts bei maximaler Leistung. Speziell die Automatisierungslösungen zielen darauf ab, z.B. smarte Steuerungen für Trockner, das Ansteuern von Zuluftanlagen oder die Lackabscheidesysteme der neusten Generation. Diese Steuerungen sind Enabler für weitere Anwendungen wie intelligente Wartungsassistenten oder Ursachen-Analyse-Tools, welche auf Basis von Echtzeitüberwachung vorausschauend auf Missstände hinweisen. „Die Produkte kommen u.a. in den Bereichen Wartung, Prozessüberwachung, Prozessoptimierung, Auftragsplanung und beim Werkstückmanagement zum Einsatz“, so Bell. Dürr ist im Besitz des Domänen-Know-hows, bietet spezifische Lösungen für die Automobilindustrie und bekommt durch viele realisierte Projekte ständig einen direkten Input vom Anwender.

Eine wichtige Rolle spielen die Schnittstellen und Plattformen. „Alle Neuprodukte mit einer Steuerung von Wagner sind ,Industrie 4.0 ready‘ und können in die IoT-Plattform eingebunden werden“, sagt Mario Oesterle. Das „IPS Beschichtungszentrum“ von Wagner z.B. ist ein vollautomatisiertes System, das entscheidende Verbesserungen im Pulverbeschichtungsprozess ermöglicht. „IPS“ steht für das Grundkonzept des neuen Beschichtungszentrums, eines integrierten Pulver-Systems. Denn nur über einen integrierten Ansatz lassen sich eine gesteigerte Produktivität, gleichbleibend hohe Qualität und einfache Bedienung erreichen. In Kombination mit einer Automatik-Pulverkabine, einer Pulverrückgewinnung, Pistolen und weiteren Komponenten lässt sich mit dem „IPS“ erstmals eine vollautomatisierte Pulverbeschichtungsanlage konfigurieren. Anwender können das Beschichtungszentrum an die Internet-of-Things-Lösung anbinden, um folgende Funktionalitäten zu ermöglichen:

  • Visualisierung & Analyse von Produktionsdaten
  • Vorbeugendes Instandhaltungsmanagement
  • Meldungen zum Systemstatus und zur Beschichtungsqualität

Vorteile sind die weltweit mögliche Erreichbarkeit (Smartphone, Tablet, PC), die für eingestellte Bereiche aktivierbare Emailbenachrichtigung und die minutengenaue Datenvisualisierung. Als Dienstleistung bietet das Unternehmen ergänzend Remoteservice sowie Serviceverträge an.
Wagner bietet seine Plattform für alle Produkte aus den drei Business Lines Nasslack-, Pulverbeschichtung sowie Anwendungen im Bereich Kleben und Dichten, die sich so kombinieren lassen. „Standardschnittstellen für Drittanbieter sind in Planung“, sagt Oesterle. Die Daten werden in der streng geschützten und DSGVO-konformen Cloud gespeichert. Der Login ist verschlüsselt und es besteht ein sicherer VPN Datentunnel. Die Daten gehören dem Kunden. Bei e. Luterbach kommuniziert man mit anderen Gewerken primär über „Profinet“. Im Bereich MES geht es meist über direkte Datenbankschnittstellen oder vereinzelt über Daten- In- und Export. Hinsichtlich Partnerschaften bzw. der Kombination bestimmter Produkte ist das Unternehmen laut Fabian Luccarini sehr flexibel und offen. Die Plattform des Unternehmens heißt „Luterbach-MES“. Die Daten werden lokal beim Kunden auf einem virtuellen Server gespeichert. Besonderheiten der Plattform sind laut Luccarini die Modularität, Flexibilität und Adaptivität. Die Daten gehören immer dem Kunden.

Die bei Dürr genutzte Plattform heißt „ADAMOS“, wird aber nicht direkt als Produkt angeboten. Vielmehr ist sie ein Werkzeugkasten für kundenorientierte Lösungen. Entscheidend ist neben der Plattform das „ADAMOS“-Partner-Netzwerk. Es bildet den Rahmen über alle Mitspieler der Wertschöpfungskette hinweg, fördert den kontinuierlichen Austausch von Wissen und ermöglicht den Zugriff auf Ressourcen zur eigenen und gemeinsamen Zielerreichung. Weitere Anlagen- und Maschinenbauer sind eingeladen, auf einen Standard zu setzen, den sie selbst mitgestalten können. Bei der Datenspeicherung bietet das Unternehmen für Kunden in Europa einen Datenvorhalt in einem Re­chenzentrum der so genannten Europe-Cloud an. Außerhalb Europas gibt es verschiedene Lösungen. Bevorzugt der Anwender den Verbleib der Daten im eigenen Haus, kann eine lokale Instanz der Plattform eingerichtet werden. Die Besonderheit der Plattform besteht in der Begegnung auf Augenhöhe – somit gibt niemand seine Werte oder Sicherheit auf und der Anwender kann sich ganz auf das jeweilige Kerngeschäft konzentrieren – ohne dabei in Abhängigkeit zu geraten. Die Daten gehören dabei immer dem, der sie produziert.

FAZIT

Das Konzept Industrie 4.0 verursacht in der Lackierindustrie einen starken Wandel. Anlagenbauer stellen moderne, komfortable Lösungen bereit, sodass Lackierbetriebe bzw. -abteilungen intelligent und vernetzt produzieren können. Die erweiterten technischen Möglichkeiten unterstützten Anwender bei:

  • der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle
  • der Optimiertung von Produktions- und Logistiksystemen
  • der individualisierten Produktion in Losgröße 1.

Eine wichtige Rolle bei Digitalisierung und Vernetzung spielen die Schnittstellen und Plattformen. Hier setzen die Anlagenbauer auf eigene oder kooperierende Lösungen. Dabei hängen die Kosten entscheidend vom jeweiligen Einzelfall und den Kundenbedürfnissen ab. Über die Amortisationsdauer kann es daher nur theoretische Berechnungen geben.

Investition und Amortisation

Befragt nach der Summe, die ein Anwender investieren muss, um seine Anlage mit Industrie 4.0-Komponenten auszustatten, gibt Fabian Luccarini von e. Luterbach an, diese kann von 10.000 bis 100.000 Euro liegen – je nach Bedürfnis. Die Berechnung, in welchem Zeitraum sich die Mehraufwendungen amortisieren, ist nicht einfach. Man muss alles einbeziehen – vom reduzierten Aufwand bis hin zu effektiver Fehlervermeidung uvm. Seiner Erfahrung nach sollte dieser im Bereich von ein bis drei Jahren liegen. „Die Kosten hängen stark vom jeweiligen Einzelfall und den Bedürfnissen der Kunden ab“, meint Stefano Bell von Dürr. Daher kann es über die Amortisationsdauer nur theoretische Berechnungen geben. Im Endeffekt zeigt der Vorher-Nachher-Vergleich der Betriebsdaten, um wie viel effizienter die jeweilige Maschine oder Anlage geworden sei.
Wagner bietet für unterschiedliche Kundenbedürfnisse maßgeschneiderte Varianten an. „Deshalb richtet sich der Preis an den Bedarf des Anwenders“, so Mario Oesterle. Die Amortisierung hängt von den Gegebenheiten vor Ort ab. Auf die Frage nach dem Nutzen, den Anwender haben, sagt Stefano Bell: „Dürr strebt nach wie vor an, die Kennzahlen ihrer Kunden zu optimieren – sei es die Qualität, die Effektivität oder die Verfügbarkeit“. So können z.B. die Aufwendungen beim Planen von Instandhaltungsaktivitäten deutlich reduziert werden. Es ist für das geschulte Auge heute schon möglich, Zusammenhänge zwischen zwei Anlagenbereichen und deren Signalverläufen zu identifizieren. Einem unerfahrenen Mitarbeiter einer Instandhaltung irgendwo auf der Welt kann es im Ernstfall jedoch helfen, wenn ein intelligentes System diese Analyse übernimmt und die notwendigen Hinweise bereitstellt. Zudem ist es Ziel, Komfort und Nutzerfreundlichkeit zu bieten. Fabian Luccarini stellt fest: „Die Gesamt­effizienz wird gesteigert und die Prozesse bzw. die Qualität sind stabil. Daraus resultieren niedrigere Betriebskosten.“

Zum Netzwerken:
J. Wagner GmbH, Markdorf, Mario Oesterle, Tel. +49 7544 505-1487, mario.oesterle@wagner-group.com, www.wagner-group.com

e. Luterbach AG, CH-Hildisrieden, Fabian Luccarini, Tel. +41 41 46260-06, luccarini@luterbach-ag.ch, www.luterbach-ag.ch

Dürr Systems AG, Bietigheim-Bissingen, Stefano Bell, Tel. +49 7142 78-2707, stefano.bell@durr.com, www.durr.com

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